Montag, 19. Dezember 2016

Glück im Unglück von Dorothee Sargon

Foto von Dorothee Sargon

Martina und Martin badeten im Glück. Sie hatten Ende November geheiratet, am 1. Dezember ihre erste Wohnung bezogen und diese innerhalb einer Woche gemütlich eingerichtet. Das Fest der Liebe, zumindest Heiligabend, wollten sie in trauter Zweisamkeit verbringen. Ein Tannenbäumchen sollte die Krönung sein, denn beide konnten sich Weihnachten ohne einen geschmückten Baum nicht vorstellen. So wie es ihre Eltern viele Jahre vorgelebt hatten, wollten sie diesen Brauch fortsetzen.
Am 24. Dezember  gingen sie morgens Hand in Hand, fröhlich und ausgelassen, zum Weihnachtsmarkt und suchten unter den letzten Bäumchen einen 1,80 m großen Baum aus. Sie kauften alles, was zum Schmücken gebraucht wurde. Der Trend ging zwar zu elektrischen Kerzen, aber diese wollten sie nicht; erstaunt, dass sie den gleichen Geschmack hatten. Sie entschieden sich für wunderschöne gedrehte silberne Wachskerzen und eine silberne Dekoration. Bevor sie den Heimweg antraten, tranken sie noch köstlichen Glühwein. Ein bisschen beschwipst kamen sie zuhause an, denn aus einem Glas wurden für jeden drei.
Beschwingt und voller Vorfreude schmückten sie den Baum am Nachmittag. Anschließend legten sie die eingepackten Geschenke darunter. Nach dem Abendessen sollte Bescherung sein. In all dem Trubel, den der Umzug mit sich gebracht hatte, fand Martina sogar noch Zeit, Plätzchen und einen Stollen zu backen. In verschiedenen Dosen verwahrte sie Vanillekipferl, Florentiner, Mandelmakronen, Bethmännchen und Spritzgebäck. Während der Adventszeit naschten beide schon fleißig von ihren Erstlingswerken. Sie war richtig stolz, dass alle Plätzchen so gut gelungen waren. Der Stollen lag gut eingewickelt seit einer Woche auf dem Schrank. Nachdem sie mit allen Vorbereitungsarbeiten fertig waren, kochte Martin Kaffee. Jetzt war endlich die Zeit gekommen, den ersten selbst gebackenen Stollen zu probieren. Stolz auf ihre Arbeit entfernte Martina das Tuch. Aber er fühlte sich nicht so an, wie sie ihn aus ihrer Kindheit kannte. Er war hart wie Stein.
Was habe ich falsch gemacht? War ich vielleicht zu großzügig mit der Mehlzugabe?, ging ihr durch den Kopf. Sie war nicht fähig zu sprechen und konnte nicht glauben, was ihre Hände ertasteten. Beherzt fasste sie den Stollen noch einmal mit beiden Händen an, aber er blieb hart und schwer. Martin, der an der Kaffeemaschine stand, merkte nun auch, dass etwas nicht stimmte und schaute seine Frau verstohlen an, wagte aber nicht, etwas zu sagen. 
Ihre Gefühle fuhren Achterbahn. Mal war sie entsetzt, mal traurig und zum Schluss nur noch wütend. Tränen rannen ihre Wangen hinunter, begleitet von einem herzerweichenden Schluchzen. Ihr Mann hatte sie noch nie weinen sehen und war hilflos. Er nahm sie in den Arm und sagte leise, während seine rechte Hand beruhigend über ihren Rücken strich: „Sei nicht traurig, ein Beinbruch ist schlimmer. Bestimmt werden sich die Enten über diesen Leckerbissen freuen.“ Ja, ihr Martin hatte in jeder Lage immer ein paar lustige Sprüche parat. Dafür hatte sie jedoch jetzt keine Ohren. Es war unmöglich, den Stollen in Scheiben zu schneiden. Selbst mit dem schärfsten und größten Küchenmesser war es hoffnungslos.
Er holte eine Säge aus seinem Werkzeugkasten und sägte den Stollen in kleine Stückchen, die er in einen Plastikbeutel steckte. Die Anstrengung schaffte ihn, denn auch mit der Handsäge war es mühsam.  
„Im Wasser quellen die Happen schnell und die Enten werden diese Köstlichkeit genießen“, meinte er humorvoll mit einem Zwinkern und etwas gerötetem Gesicht. 
„Vielleicht hast du ihn nicht genug gehen lassen, oder zu viel Mehl genommen. Mach dir nichts draus, wir werden noch öfters Weihnachten feiern. Ob Stollen oder Plätzchen zum Kaffee ist schließlich egal.“ Für Martina waren seine Worte nur ein schwacher Trost.
Während des Abendessen, es war ca. 19 Uhr, hörten sie in der Ferne die Kirchenglocken läuten. Beide waren sich einig, dass sie die Christmette um Mitternacht besuchen würden. Das Radio spielte den ganzen Tag mit kleinen Unterbrechungen Weihnachtslieder. Langsam kamen sie in eine weihnachtliche Stimmung. Die Küche war sauber, es wurde Zeit, die Kerzen anzuzünden. Ihr erstes gemeinsames Bäumchen sah richtig schön aus und strahlte im silbernen Glanz. Die Bescherung kam und beide waren mit dem Auspacken der Geschenke beschäftigt. Sie schauten sich immer wieder an und waren glücklich, dass jeder erraten hatte, was der andere sich gewünscht hatte. Martina sah erstaunt den Glanz der flackernden Kerzenlichter in den Augen ihres Mannes. Ihre Blicke trafen sich erneut und blieben ineinander hängen. Aber was war das denn? Plötzlich bemerkte sie in seinen Augen eine kleine Flamme. Sie drehte sich um und schaute sprachlos auf den Baum. Zu spät bemerkten sie beide, dass eine Kerze im unteren Bereich des Baumes den darüber hängenden Zweig angezündet hatte. Voller Entsetzen sahen sie, wie ihr schön geschmückter Baum brannte. Was tun? Geistesgegenwärtig ergriff Martin den Baum an der Spitze, während Martina wie zur Salzsäule erstarrt da stand, und schrie:
„Öffne schnell die Balkontür.“ Sie gehorchte dem Ruf wie ein Roboter.  In Sekunden hatte sie die Gardine zurückgezogen und die Tür geöffnet. Vor ihrem Haus war ein breiter Bürgersteig. Mit einem Blick hatte sie sich vergewissert, dass sich niemand dort befand. Der Baum landete eine Etage tiefer auf dem Gehweg und brannte lichterloh. Im Eiltempo liefen beide nach unten. Zwei Schaufeln standen noch am Hauseingang. Da es kräftig geschneit hatte, konnten sie das Feuer mit Schnee löschen.
An ihr erstes gemeinsames Weihnachtsfest werden sie sich bestimmt bis an ihr Lebensende erinnern und die Geschichten über den misslungenen Stollen und den brennenden Baum ihren zukünftigen Kindern und Enkelkindern immer wieder erzählen.
Sie hatten großes Glück gehabt.
© Dorothee Sargon


Dorothee Sargon kam unter dem Sternzeichen Widder 1942 in Kassel auf die Welt. Nach der Schulzeit lernte sie Bürokauffrau. Fernweh trieb sie 1963 als Au-pair-Mädchen in die USA, um die Sprache zu lernen und Land und Leute kennenzulernen. Nach ihrer Rückkehr im Jahre 1964 arbeitete sie viele Jahre als Sekretärin. Im Dezember 1965 folgte ihre Eheschließung, 1970 kam ihr Sohn zur Welt. Fünfzehn Jahre blieb sie zu Hause und widmete sich seiner Erziehung. Während dieser Zeit war sie die rechte Hand in den Geschäften ihres Mannes.


Seit sie denken kann, hält Dorothee Sargon wichtige Ereignisse in ihrem Tagebuch fest und erzählt gern Geschichten aller Art, besonders Episoden aus ihrem reich gefüllten Leben. Da die Zuhörer nie mit einer zufrieden waren, versprach sie: „Wenn ich pensioniert bin, schreibe ich ein Buch.“ Erst acht Jahre nach ihrer Pensionierung entdeckte sie im Keller die längst vergessenen Umzugskisten mit den Tagebüchern. Nach der Sichtung fing sie an, Kurzgeschichten für Anthologien und Bücher zu schreiben. Es sind Geschichten, die das Leben schrieb. Sie sollen Mut machen und zeigen, dass fast alles im Leben erreicht werden kann, wenn geduldig Ziele verfolgt werden und man seinem höheren Selbst vertraut.

Heute ist Schreiben ihr Hobby.


Starke Frauen der Weltgeschichte sind ihre Vorbilder.

Ihr Wahlspruch (Laotse): Wer sein Ziel kennt, findet den Weg.

www.autorin-dorotheesargon.de